Der nachstehende Artikel ist erschienen in Weltwoche Nr. 6 vom 7.2.02, Ressort Wissen, Seite 43, Autor: Till Hein      
           
                                                                               
                                                                               
        Wer heizt, muss von gestern sein                
                                                                               
         

Über vierzig Prozent der Energie gehen in der Schweiz fürs Heizen drauf. Diese Verschwendung liesse sich stoppen - dank der modernen Technik der Passivhäuser

"Sei doch nicht dauernd so passiv!", pflegten meine Eltern einst zu sagen. Wer es im Leben zu etwas bringen will, muss dynamisch und flexibel sein, behaupteten sie felsenfest. Dabei hat Passivität doch eigentlich einiges für sich. Zumindest bei Immobilien. So genannten Passivhäusern gehört nämlich die Zukunft. Sie bieten hervorragende Wohnqualität und sind im Unterhalt sehr wirtschaftlich. Doch damit nicht genug: Passivhäuser werden uns dabei helfen, die Schadstoffmengen, die wir jährlich in die Luft blasen, radikal zu senken. Das Verschwenden fossiler Ressourcen im Wohnungs- und Bürobereich könnte dank dieser neuen Bautechnik bald ein Ende haben. Und zwar ganz ohne Frieren.

"Ein Passivhaus funktioniert ähnlich wie ein Schlafsack", erklärt Diplom-Ingenieur Andreas Bühring vom Fraunhofer-Institut für Solare Energiesysteme (ISE) in Freiburg im Breisgau. Die vorhandene Wärme wird in solchen Gebäuden auf passive Weise optimal ausgeschöpft und gehortet. "Und im Winter muss man daher nicht mehr aktiv heizen", sagt Bühring. Das Prinzip hört sich simpel an: Erstens packt man sein Haus dick in Styropor, Kork oder Schafwolle ein und macht es auf diese Weise luftdicht. Zweitens wird über eine automatische Lüftungsanlage jeweils ein Grossteil der Wärme aus der verbrauchten Luft wieder zurückgewonnen. Und drittens nutzt man Erdwärme und Sonnenenergie. Die Ergebnisse dieser Strategie können sich sehen lassen: Passivhäuser benötigen lediglich 15 Kilowattstunden (KWh) Strom oder 1,5 Liter Heizöl pro Quadratmeter und Jahr - über 90 Prozent weniger als konventionelle Gebäude.

Wärmetausch im Lüftungsrohr

"Der wichtigste Trick beim Passivhaus ist die Wärmerückgewinnung", erklärt Diplom-Ingenieur Bühring. Zu diesem Zweck muss man die warme, verbrauchte Luft aus dem Gebäude sowie die kalte Frischluft lediglich in wabenartigen Kanälen nahe aneinander vorbei leiten. "Dabei wandert die Wärme automatisch in die frische Luft hinüber", erklärt Bühring. "Und wenn wir in der Wohnung beispielsweise 20 Grad haben und draussen minus 10 Grad, erzielen wir allein mit dieser Methode bereits 13 Grad bei der Frischluft." Duftstoffe und Verunreinigungen werden von der automatischen Lüftungsanlage - anders als beim Öffnen der Fenster - erst noch herausgefiltert. Und das alles geschieht in einem Metallkasten im Kellergeschoss, der lediglich so gross wie ein Computerbildschirm ist.

"Ein Passivhaus kommt mit sehr wenig Technik aus", betont Bühring. Um in den Wohnräumen angenehme Temperaturen von rund 21 Grad zu erreichen, werden in der Lüftungsanlage zusätzlich Kompaktgeräte mit integrierter Wärmepumpe eingesetzt, die das Fraunhofer ISE entwickelt hat. "Solche Geräte arbeiten nach dem gleichen Prinzip wie ein Kühlschrank, nur umgekehrt", erklärt Bühring. Und viele Passivhäuser machen sich darüber hinaus mit Hilfe von unterirdischen Leitungsröhren die erhöhten Temperaturen im Erdreich zum Vorwärmen der Frischluft zu Nutze, und das Bade- und Abwaschwasser erhitzen sie mit Sonnenkraft. - Auf konventionelle Heizkörper kann man also getrost verzichten.

Gerade in der Schweiz bieten Passivhäuser riesige Chancen: Derzeit machen Gebäudeheizungen bei uns nämlich stolze vierzig Prozent des gesamten Energieverbrauchs aus. Doch dieser moderne Gebäudetyp ist hier noch weitgehend unbekannt. Während in Deutschland bereits mehr als tausend Passivhäuser stehen, sind es bei uns erst einige wenige. Immerhin haben sich in der Schweiz in den vergangenen Jahren so genannte Minergie-Häuser etablieren können. Die helfen ebenfalls beim Energiesparen. Jedoch nicht konsequent genug, wie viele Fachleute betonen: Solche Häuser zu bauen, sei "wie Formel 1 fahren, aber ganz langsam", sagt etwa der Architekt Meinhard Hansen aus Freiburg im Breisgau. Und sein Schweizer Kollege Markus Steinmann, Dozent am Institut für Energie der Fachhochschule beider Basel in Muttenz, pflichtet ihm bei: "Das Passivhaus ist eindeutig die intelligentere Lösung." Besonders weil man im Minergie-Haus ja nach wie vor auf konventionelle Weise heizen müsse. Zumindest in der Nordwestschweiz will man sich nun aber der Herausforderung Passivhaus offensichtlich doch noch stellen: Die Kantone Basel-Stadt und Baselland fördern den Bau solcher Gebäude seit neustem mit fünfzig Franken pro Quadratmeter.

Und vergangene Woche fand im Kongresszentrum der Messe Basel die jährliche "Europäische Passivhaustagung" erstmals in der Schweiz statt. "Wir sind offen für Neuerungen, gerade auch für Fragen des energetisch richtigen Bauens", betonte die Regierungspräsidentin des Kantons Basel-Stadt, Barbara Schneider, in ihrer Eröffnungsrede. Auf dem Kongress selbst spielte dann nicht zuletzt das Thema Geld eine zentrale Rolle: Nach dem Passivhaus-Standard bauen, bedeutet nämlich nach wie vor einen zusätzlichen finanziellen Aufwand. "Durchschnittlich muss man mit Mehrkosten von rund acht Prozent rechnen", berichtete Helmut Krapmeier vom Energieinstitut Vorarlberg, der die Baukosten von über hundert Passivhaus-Projekten in Europa verglichen hat. "Aber für einen Mercedes bezahlt man ja auch gerne ein paar Euro mehr als für einen Trabant." Und womöglich werden bald auch Klein- und Mittelverdiener zum Zielpublikum für Energiesparhäuser gehören: "Mittlerweile kann man nämlich eigentlich jedes Gebäude auch als Passivhaus bauen", betonte Wolfgang Feist vom Passivhausinstitut in Darmstadt.

Das erste Mehrfamilien-Passivhaus der Welt wurde jedenfalls bereits vor einigen Jahren in Freiburg im Breisgau bezogen. 16 Wohnungen und 4 Büros umfasst es, und insgesamt leben 44 Leute hier. Langweilig wird es denen mit Sicherheit nie, denn dauernd kommen Architektur-Touristen, Öko-Freaks und Journalisten vorbei und klettern auf dem Flachdach mit der Solarstromanlage herum. Sogar der deutsche Umweltminister Jürgen Trittin war bereits zu Gast und neulich TV-Teams aus Korea und Japan. Ferdinand Biselli wohnt mit seiner Familie hier in einer Fünfzimmerwohnung. Das Treppenhaus ist aussen angebracht, in einer Art Turm: Dadurch wurden so genannte Wärmebrücken - die Energieverluste bewirken - vermieden, erklärt Biselli. An der Südseite des Gebäudes sind die Fensterfronten weitaus breiter und höher als im Norden. Im Süden macht man sich nämlich die Kraft der Sonne zu Nutze, erklärt Biselli. Passivhäuser verfügen zu diesem Zweck über Spezialfenster, die ähnlich wie ein Ventil funktionieren. Sie lassen sehr viel Sonnenlicht und Wärme in die Wohnungen, isolieren aber nach aussen hin stark. Unumgänglich ist dafür eine Dreifachverglasung, sagt Biselli. Und am besten eigne sich "eisenarmes Spezialglas".

Die Raumtemperatur beträgt bei den Bisellis rund zwanzig Grad, und die Fenster kann man getrost geschlossen lassen. Durch Boxen - ähnlich wie bei einer Stereoanlage - gelangt nämlich ständig vorgewärmte Frischluft in die Wohnräume, während die verbrauchte Luft in Bad und Küche abgesaugt wird. Wenn man auf Badewanne oder Küchentisch steigt und sein Ohr direkt an den Lüftungskanal hält, kann man ein leises Rauschen hören. Das Leben in diesem Haus sei sehr komfortabel, betont Biselli. "Und zum Glück kriegen wir ja inzwischen nicht mehr die verbrauchte Luft der Nachbarn." Direkt nach dem Einzug war das nämlich der Fall gewesen. Damals funktionierte das Lüftungsgerät noch nicht einwandfrei, und es roch dauernd nach Zigaretten in den Nichtraucherwohnungen. Inzwischen ist die Luft herrlich in der Wohnung der Familie Biselli. Man wähnt sich beinahe auf einer Bergtour oder in den Skiferien. "Und wir verbrauchen pro Person und Jahr lediglich so viel Energie, wie man für eine einzige Autofahrt von 300 Kilometern benötigt", sagt Ferdinand Biselli. Das merke er bei der Stromrechnung jeweils deutlich.

Kein Haus zu alt

Längst sind in Deutschland und Österreich weitere Passiv-Mehrfamilienhäuser entstanden. Und im vergangenen August konnte auch in Stans ein erstes solches Gebäude bezogen werden. Doch bezahlbare Passivhausneubauten reichen bei weitem nicht aus, betonen umweltbewusste Architekten und Bautechniker: Wenn wir die Energiebilanz in der Schweiz (und Europa) ernsthaft verbessern wollen, muss auch die bestehende Bausubstanz in Städten und Dörfern nach dem Vorbild der Passivhäuser aufgewertet werden. Und selbst bei solchen Umbauten lassen sich bereits erste Erfolge verzeichnen: Der junge Architekt Karl Viridén etwa hat kürzlich in Zürich ein über hundert Jahre altes Haus mit denkmalgeschützter Fassade energietechnisch aufgemöbelt. Obwohl er das Gebäude dafür perfekt isolieren musste, blieb die Fassade optisch unbeeinträchtigt. Und die Normen für ein echtes Passivhaus hat Viridén nur um Haaresbreite verfehlt.

Altbauten sorgfältig in Passivhäuser zu verwandeln, ist aufwendig und teuer. Viele Experten gehen aber davon aus, dass in den kommenden zwanzig Jahren die Energiepreise stark ansteigen werden und sich die sparsamen Passivhäuser daher längerfristig erst recht bezahlt machen. Und für das Weltklima sind solche Energiesparhäuser in jedem Fall Balsam. Der Passivität gehört also die Zukunft. Zumindest im Bereich der Immobilien.

© Weltwoche

         
                   
                   
                   
                   
                   
                   
                   
                   
                   
                   
                   
                   
                   
                   
                   
                   
                   
                   
                   
                   
                   
                   
                   
                   
                   
                   
                   
                   
                   
                   
                   
                   
                   
                   
                   
                   
                   
                   
                   
                   
                   
                   
                   
                   
                   
                   
                   
                   
                   
                   
                   
                   
                   
                   
                   
                   
                   
                   
                   
                   
                   
                   
                   
                   
                   
                   
                   
                   
                   
                   
                   
                   
                   
                   
                   
                   
                   
                   
                   
                   
                   
                   
                   
                   
                   
                   
                   
                   
                   
                   
                   
                   
                   
                   
                   
                   
                   
                   
                                                                               
                                                                           
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